Freitag, 20. Januar 2012

Die Geschichte Teil 53

1993
Kevin wollte nicht mehr leben. Sein Gesicht war mit frischen Schnittwunden übersät. Links und rechts trug er zahlreiche Pflaster, Rasiermesserschnitte, die ihm irgendwelche Dealer zugefügt hatten. Manche Wunden gingen sicherlich auch auf sein eigenes Konto. Er konnte seine Schuhe nicht mehr anziehen. Kein Muskel tat mehr das, was er sollte. Barfuß, vollbärtig und ein Bein nachziehend schleppte er sich zur Trinkhalle Ost und ließ den Jägermeister anschreiben. Im Januar 93, als er halb erfroren und halb tot war und das H alle war, zog er den Jägermeister auf die Pumpe und jagte ihn sich in die Vene.
Moni hatte sich bei verschiedenen Ärzten erkundigt. Sie war in Krankenhäusern gewesen, bei der Drogenberatung und in mehreren Therapiezentren, oft mit Stephans Hilfe. Ohne Geld ging schon mal gar nichts. Eine Bekannte, die als Nachtschwester arbeitete, klaute Pillen und Medikamente, die die Schmerzen des Entzugs lindern sollten. Es half nichts. Tätowieren konnte Kevin schon lange nicht mehr. Die letzten Bilder, die er gestochen hatte, waren grauenhaft verwackelt. Viel Geld hatte er verdient mit dem "piken", geblieben war ihm nichts. Immer wenn ein wenig Onkelzkohle reinkam, brach Kevin alle Entzugsversuche ab und ging "was Braunes" kaufen.

Ein neues Jahr bedeutete neue Angriffe, neue Feinde und neue Erfahrungen. Das wiederum führte zwangsläufig zu neuen Liedern. 1993 würde Stephan einige der Forderungen erfüllen, die andere Kritiker ihm und der Band auferlegt hatten. Jedoch nicht, um diesen Leuten zu zeigen, dass sie sich fügten, sondern einzig und allein, weil die Onkelz selber das Gefühl hatten, sich noch eindeutiger distanzieren zu müssen, von dem was passierte. Und um der Presse zu zeigen, dass sie sich nicht davor scheuten, unter ihrem eigenen Namen weiterhin gegen alles und jeden vorzugehen. Warum also nicht auch gegen Rechts ? Sie hatten nichts zu verlieren, und Nazis waren ihnen sowieso verhasst. Wenn jeder Journalist, der zu faul zum Recherchieren war, es schwarz auf weiß brauchte, dann sollte er es kriegen. Und zwar als Doppelschlag, als Links/Rechts-Kombination, mitten ins Gesicht.
Viele neue Lieder gingen 1993 auf Stephans Eindrücke während seiner Reisen zurück - er war im Frühjahr mit Sven Väth in Indien und Nepal gewesen - viele Verse entstanden durch Inspiration, die er sich durch das Lesen von Büchern geholt hatte, und alle spiegelten sie die Erfahrungen der Band wieder, die die Zeit seit der Heiligen Lieder bis jetzt geprägt hatten.
"Schwarz/Weiß", die 93er Doppelveröffentlichung war ein großer Sprung in Text und Aussage. Stephan war in der Lage, seine Drogen- und seine Lebenserfahrungen intellektuell und kreativ umzusetzen. Die Band Riss er dabei einfach mit.

"Nächtelang gezecht, mich ins Koma gesoffen . . ." . Kevin hatte weder Kindheits- noch Jugendtrauma jemals richtig verarbeitet. Ihm fehlte jegliches Vertrauen in das eigene Handeln. Er kannte gar keinen anderen Antrieb als den Hass. Selbst wenn er einmal Glück haben würde, so würde er es sich nicht gefallen lassen. Dann würde er das Glück nehmen und drauf rumtrampeln, bis es sich in Leid verwandelte. Er konnte nicht anders. Kevin suchte das Misslingen mehr als jeder andere. Der Pluto, der Planet, der die dichteste Masse besaß und die Menschen an die dunklen Seiten der Seele kettete, das war Kevins Stern. Seine ganze Konstellation war auf Krieg ausgerichtet. Saturn, Mars, Uranus. Ob Kevin wollte oder nicht, er musste wirken am Webstuhl der Gewalt. Im Grunde bewunderte er Stephan für dessen Stärke, und ohne ihn wäre er sicherlich schon längst tot, aber die Tatsache, dass Stephan so ultrakrass zu sich und seinen Mitmenschen sein konnte, machte ihn fertig. Stephans Kritik konnte vernichtend sein. Weidner konnte Dinge sagen und Menschen dabei in die Augen gucken, dass ihnen die Beine wegknickten. Er riss die Verantwortung an sich, wo immer er auftauchte, und immer, wenn jemand ihm zu misstrauen begann, sagte er etwas Besonnenes, so dass ihm jeder wieder gern vertrauen wollte. Stephan besaß eine psychische Kraft, die so stark und skrupellos sein konnte, dass er Leute in seinem Umfeld regelrecht entmündigte. Wenn Kevin sich ihm anvertraute, blieb ein bleierner Geschmack zurück.

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